Der unerträgliche Standpunkt

Heinz Kobald

  
 
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Die Ethnische Säuberung Palästinas
Textstellen aus dem Vorwort:
Die Ethnische Säuberung PalästinasDie Ethnische Säuberung Palästinas







Textstellen aus dem Vorwort

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In diesem Gebäude ( Anm. Das Rote Haus ) saßen am 10. März 1948, einem kalten Mittwochnachmittag, elf Männer zusammen - altgediente zionistische Führer und junge jüdische Offiziere - und legten letzte Hand an einen Plan für die ethnische Säuberung Palästinas.
Noch am selben Abend ergingen militärische Befehle an die Einheiten vor Ort, die systematische Vertreibung der Palästinenser aus weiten Teilen des Landes vorzubereiten.
Die Befehle gaben detailliert die Einsatzmethoden zur Zwangsräumung vor:
groß angelegte Einschüchterungen; Belagerung und Beschuss von Dörfern und Wohngebieten; Niederbrennen der Häuser mit allem Hab und Gut; Vertreibung; Abriss und schließlich Verminung der Trümmer, um eine Rückkehr der vertriebenen Bewohner zu verhindern.
Jede Einheit erhielt eine Liste mit Dörfern und Stadtvierteln, den Zielen dieses Masterplans.
Er trug den Codenamen Plan D (Dalet in Hebräisch) und war die vierte und endgültige Version vorausgegangener Planungen für das Schicksal, das die Zionisten für Palästina und seine heimische Bevölkerung vorsahen.

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Diese vierte und letzte Blaupause sprach es klar und deutlich aus:
Die Palästinenser mussten raus.
Als einer der ersten Historiker erkannte Simcha Flapan die Bedeutung dieses Plans; er schrieb:
"Das militärische Vorgehen gegen die Araber, einschließlich der Eroberung und Zerstörung ländlicher Gebiete war Teil des ... "Plans Dalet" der Hagana."
Ziel des Plans war tatsächlich die Zerstörung ländlicher wie auch städtischer Gebiete Palästinas.

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Als es vorbei war, waren mehr als die Hälfte der ursprünglichen Bevölkerung Palästinas, annähernd 800.000 Menschen, entwurzelt, 531 Dörfer zerstört und elf Stadtteile entvölkert.
Der am 10. März 1948 beschlossene Plan und vor allem seine systematische Umsetzung in den folgenden Monaten war eindeutig ein Fall ethnischer Säuberung, die nach heutigem Völkerrecht als Verbrechen gegen die Menschlichkeit gilt.
Nach dem Holocaust ist es fast unmöglich geworden, Verbrechen gegen die Menschlichkeit zu vertuschen. ( ... ) von Menschen verschuldete Katastrophen vor der Öffentlichkeit zu verbergen oder zu leugnen.
Und dennoch ist ein solches Verbrechen fast vollständig aus dem weltweiten öffentlichen Gedächtnis gelöscht worden:
nämlich die Vertreibung der Palästinenser durch Israel 1948.

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Dieses höchst prägende Ereignis in der modernen Geschichte des Landes Palästina wurde seit damals systematisch geleugnet und ist bis heute nicht als historische Tatsache, geschweige denn als ein Verbrechen anerkannt, dem man sich politisch wie moralisch zu stellen hat.

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Abgesehen von dem erlittenen Trauma war es für Palästinenser zutiefst frustrierend, dass das verbrecherische Tun, für das diese Männer verantwortlich waren, seit 1948 so gründlich geleugnet und das Leid der Palästinenser so vollständig ignoriert wurde.

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Das Märchen, das die israelische Geschichtsschreibung erfunden hatte, sprach von massivem "freiwilligem Transfer" Hunderttausender Palästinenser, die sich entschlossen hätten, vorübergehend ihre Häuser und Dörfer zu verlassen, um den vordringenden arabischen Truppen Platz zu machen, die den jungen jüdischen Staat vernichten wollten.
In den 1970er Jahren sammelten palästinensische Historiker, namentlich Walid Khalidi, authentische Erinnerungen und Dokumente über das, was ihrem Volk zugestoßen war, und konnten so einen beträchtlichen Teil des Bildes wiederherstellen, das Israel auszulöschen versucht hatte.
Sehr schnell wurden sie jedoch übertönt von Publikationen wie Dan Kurzmans Genesis 1948, das 1970 erschien und 1992 neu aufgelegt wurde (dieses Mal mit einer Einleitung von einem Mann, der an der Ausführung der ethnischen Säuberung Palästinas beteiligt war, Yitzhak Rabin, zu dieser Zeit Ministerpräsident Israels).
Es gab jedoch auch manche, die die palästinensischen Bemühungen unterstützten.
So erhärtete Michael Yalumbo in seinem Buch The Palestinian Catastrophe (1987) die palästinensische Version der Ereignisse von 1948 anhand von UN-Dokumenten und Interviews mit palästinensischen Flüchtlingen und Exilanten, deren Erinnerungen an das, was sie während der Nakba durchgemacht hatten, noch erschreckend lebendig war.

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Eine kleine Gruppe israelischer Historiker versuchte damals die zionistische Darstellung des Krieges von 1948 zu revidieren.Ich war einer von ihnen.
Aber wir, die neuen Historiker, leisteten nie einen signifikanten Beitrag zum Kampf gegen die Leugnung der Nakba, da wir die Frage der ethnischen Säuberung umgingen und uns auf Details konzentrierten, wie es für diplomatische Historiker typisch ist.
Dennoch gelang es den revisionistischen israelischen Historikern - in erster Linie anhand von israelischen Militärarchiven - zu zeigen, wie falsch und absurd die israelische Behauptung war, die Palästinenser hätten das Land "aus freien Stücken" verlassen.
Sie konnten viele Fälle massiver Vertreibungen aus Dörfern und Städten nachweisen und enthüllen, dass die jüdischen Truppen eine beträchtliche Zahl von Gräueltaten bis hin zu Massakern begangen hatten.
Eine der bekanntesten Persönlichkeiten, die über dieses Thema schrieb, war der israelische Historiker Benny Morris.
Da er sich ausschließlich auf Dokumente aus israelischen Militärarchiven stützte, gelangte Morris zu einem sehr einseitigen Bild des Geschehens vor Ort.
Manchen seiner israelischen Leser genügte es jedoch, um zu erkennen, dass die "freiwillige Flucht" der Palästinenser ein Mythos war und das israelische Selbstbild, 1948 einen "moralischen" Krieg gegen eine "primitive" und feindselige arabische Welt geführt zu haben, voller Fehler und möglicherweise eine komplette Fälschung war.
Morris' Bild war einseitig, weil er die israelischen Militärberichte, die er in den Archiven fand, für bare Münze nahm.
So konnte er von Juden begangene Gräueltaten ignorieren, wie das Vergiften der Wasserversorgung von Akko (Acre) mit Typhus, zahlreiche Fälle von Vergewaltigung und Dutzende Massaker.
Außerdem beharrte er - zu Unrecht - darauf, dass es vor dem 15. Mai 1948 keine Zwangsräumungen gegeben habe."
Palästinensische Quellen belegen eindeutig, dass es den jüdischen Truppen schon Monate vor dem Einmarsch arabischer Truppen in Palästina, während die Briten noch für Recht und Ordnung im Land zuständig waren - nämlich vor dem 15. Mai -, gelungen war, nahezu eine Viertelmillion Palästinenser zwangsweise zu vertreiben.

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Damals wie heute besteht eine historische und politische Notwendigkeit, über solche Darstellungen, wie sie bei Morris zu finden sind, hinauszugehen, und zwar nicht nur, um das Bild (um die andere Hälfte) zu vervollständigen, sondern auch - was weitaus wichtiger ist -, weil es für uns keinen anderen Weg gibt, die Wurzeln des gegenwärtigen israelisch-palästinensischen Konflikts umfassend zu verstehen.

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Das bedeutendste Werk - was angesichts seiner vorherigen beträchtlichen Beiträge zum Kampf gegen die Leugnung durchaus zu erwarten war - ist Walid Khalidisbahnbrechendes Buch All That Remains.
Dieser Almanach der zerstörten Dörfer ist nach wie vor unverzichtbar für jeden, der die ungeheuren Ausmaße der Katastrophe von 1948 begreifen möchte.

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Doch die Darstellung der "neuen Geschichte" und die jüngeren Beiträge palästinensischer Geschichtsforschung drangen nicht in den öffentlichen Bereich moralischen Bewusstseins und Handelns vor.
In diesem Buch möchte ich sowohl die Mechanismen der ethnischen Säuberung von 1948 als auch das kognitive System untersuchen, das es der Welt und den Tätern ermöglichte, die von der zionistischen Bewegung 1948 am palästinensischen Volk begangenen Verbrechen zu vergessen beziehungsweise zu leugnen.

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Als die zionistische Bewegung ihren Nationalstaat gründete, war es keineswegs so, dass sie einen Krieg führte, der "tragischerweise, aber unvermeidbar" zur Vertreibung eines "Teils" der heimischen Bevölkerung führte; vielmehr war es umgekehrt:
Hauptziel war die ethnische Säuberung ganz Palästinas, das die Bewegung für ihren neuen Staat haben wollte.

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Ich möchte verhindern, dass die Verbrechen, die Israel begangen hat, auf so schwer fassbare Faktoren geschoben werden wie "die Umstände", "die Armee" oder, wie Morris sagt, "à la guerre comme à la guerre" und ähnlich vage Verweise, die souveräne Staaten aus der Verantwortung entlassen und Individuen straflos davonkommen lassen.

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Die Version der Zionisten/Israelis behauptet, die lokale Bevölkerung sei "freiwillig" gegangen, und die Palästinenser sprechen von der "Katastrophe", der Nakba, die sie ereilt habe, was in gewisser Weise auch ein ausweichender Begriff ist, da er sich mehr auf das Unglück an sich als darauf bezieht, wer oder was es verursacht hat.
Der Begriff Nakba wurde aus verständlichen Gründen in dem Versuch gewählt, dem moralischen Gewicht des Holocaust an den Juden (Shoa) etwas entgegenzusetzen, aber da er die Täter ausspart, mag er in gewisser Weise dazu beigetragen haben, dass die Welt die ethnische Säuberung Palästinas 1948 und danach fortwährend leugnete.

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Die allgemeine Definition, worin ethnische Säuberung besteht, trifft fast wörtlich auf den Fall Palästina zu.
So gesehen, stellen sich die Ereignisse von 1948 als unkompliziertes, aber deshalb durchaus nicht simplifiziertes oder zweitrangiges Kapitel in der Vertreibungsgeschichte Palästinas dar.
Der Blick durch das Prismenglas der ethnischen Säuberung ermöglicht es ohne weiteres, den Deckmantel der Komplexität zu durchdringen, den israelische Diplomaten fast instinktiv ausbreiten und hinter dem israelische Akademiker sich regelmäßig verstecken, wenn sie Kritik von außen am Zionimus oder am jüdischen Staat wegen seiner Politik und seines Verhaltens abwehren.
In meinem Land sagen sie:
"Ausländer begreifen diese komplizierte Geschichte nicht und können sie nicht begreifen", deshalb brauche man gar nicht erst zu versuchen, sie ihnen zu erklären.
Wir sollten dem Ausland auch nicht erlauben, sich an Lösungsversuchen des Konflikts zu beteiligen - es sei denn, es akzeptiere den israelischen Standpunkt.
Alles, was das Ausland tun könne, sei (wie die jeweiligen israelischen Regierungen der Welt seit Jahren erklärt haben), "uns" - die Israelis, als Repräsentanten der "zivilisierten" und "rationalen" Seite in diesem Konflikt - eine gerechte Lösung für "uns selbst" suchen zu lassen und für die andere Seite, die Palästinenser, die schließlich Inbegriff der "unzivilisierten" und "emotionalen" arabischen Welt seien, zu der Palästina gehört.

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In dem Moment, als die Vereinigten Staaten bereit waren, diese sich selbst zurechtgebogene Herangehensweise zu übernehmen und die ihr zugrunde liegende Arroganz zu unterstützen, hatten wir einen "Friedensprozess", der nirgendwohin führte und führen konnte, weil er den Kern des Problems völlig außer Acht ließ.

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Es ist die einfache, aber entsetzliche Geschichte der ethnischen Säuberung Palästinas, eines Verbrechens gegen die Menschlichkeit, das Israel leugnen und die Welt vergessen machen wollte.
Es ist unsere Pflicht, es aus der Vergessenheit zu holen, und zwar nicht nur als längst überfällige historiographische Rekonstruktion oder professionelle Aufgabe; meiner Ansicht nach ist es eine moralische Entscheidung, der allererste Schritt, den wir tun müssen, wenn wir wollen, dass Versöhnung jemals eine Chance haben und der Frieden in den zerrissenen Ländern Palästina und Israel Fuß fassen sollen.


Vorwort - Ende


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"Die ethnische Säuberung Palästinas" löste einen Skandal aus, an dessen Ende Pappe seine Lehrtätigkeit an der Universität Haifa aufgeben musste und Zuflucht an einer britischen Hochschule fand.

Pappe ist nicht der erste und sicher nicht der letzte Dissident aus den Reihen der Intellektuellen, der das Land verlassen musste, um der erstickenden Atmosphäre zu entgehen, von der sich ein "Nestbeschmutzer" umgeben fühlt.

Pappes Befunde sind wesentlich detaillierter belegt als die seiner Vorgänger und darum nicht leicht zu widerlegen.
Tatsächlich hatte er Zugang zu neuen Dokumenten in den israelischen Archiven, die einen Zeitraum von sechzig Jahren abdecken und nicht nur von vierzig Jahren wie bei früheren Autoren.

Quelle:
Le Monde diplomatique Nr. 8575 vom 9.5.2008, Eric Rouleau
Der Mythos vom kleinen David
Israels Neue Historiker hinterfragen die Legenden um die Staatsgründung
von Eric Rouleau


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ergänzt am: 23.05.2008 * Heinz Kobald